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Der Hölle entkommen

Würzburg (POW) „Daran, dass in den KZs die Juden vergast werden, glaubten auch wir nicht.“ 1943, an der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, wusste er, dass das Gerücht grausame Wirklichkeit war. Otto Schwerdt ist Jude und hat die viel zitierte „Hölle von Auschwitz“ überlebt. Er erzählt als 80-Jähriger von dem Leid, das er erfahren und überlebt hat. „Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Toten“. Deswegen reist Schwerdt durch Deutschland, berichtet unter anderem in Schulen von den Gräueln, die er am eigenen Leib erfahren, mit eigenen Augen gesehen hat. Eindrücke, die sich in die Seele gebrannt haben. Ähnlich tief und dauerhaft wie die Nummer 133716. Die haben ihm die Nazis zur Begrüßung in Auschwitz in den Unterarm tätowieren lassen.
 
„Es ist wichtig, dass die Jugend weiß: Wir dürfen nicht wegsehen, wir dürfen so etwas nicht noch einmal geschehen lassen.“ Mutter, Bruder und Schwester hat er in Auschwitz verloren. Nicht nur Deutschland habe während der Schreckensherrschaft Hitlers geschlafen, sondern auch die Welt. Unter anderem seien Juden mit gültigem Visum nicht nach Kuba gelassen worden, auch Kanada und weitere Länder hätten ihnen die Einreise verweigert und so ihren Tod in Kauf genommen. „Ich verstehe bis heute auch nicht, warum der Papst nicht allen Judenverfolgern mit Exkommunikation gedroht hat.“
 
Im großen Hörsaal der Universität Würzburg liest Schwerdt auf Einladung der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken. Es ist Montag, 27. Januar. Vor exakt 58 Jahren befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Bedrückte Stille, als der ehemalige Insasse Otto Schwerdt die deutsche Vergangenheit aus seinem Erleben schildert. Er spricht von der Kindheit in Braunschweig, von den ersten Anfeindungen der Nazis. Von der Flucht seiner Familie nach Polen, vom erzwungenen Umzug ins Ghetto Dombrowa. Seine Stimme klingt gefasst und fast jugendlich, ohne Verbitterung lässt er seine Geschichte lebendig werden. Er erzählt von dem Vater, der sein Kind umbrachte, als er ihm den Mund zuhielt, um nicht durch sein Weinen den Nazis in die Hände zu fallen, die das Ghetto räumten. Erstaunlich, wie stark, positiv und gesund der Mensch wirkt, der als junger Erwachsener mehr Tote, mehr Grausamkeit, mehr Ungewissheit gesehen hat, als überhaupt ertragbar scheint.
 
Todesangst erfüllte die Menschen, die in Viehwaggons gepfercht mit ihm nach Auschwitz transportiert wurden. Wer noch lebendig ankam, wurde vom SS-Arzt selektiert. Links bedeutete den Tod in der Gaskammer, rechts Leben im Lager. „So einfach ist das für die Herrenmenschen.“ Zum Sterben aussortierte Alte und Schwache wurden mit Sanitätsfahrzeugen zur Gaskammer transportiert, Kinder von ihren Müttern getrennt. Glaubhaft und ohne erkennbare Emotion lässt Schwerdt die Menschenverachtung der Nazis, aber auch seine Verzweiflung und Todesangst lebendig werden. Nur einmal muss der ansonsten so gefasste und agil wirkende Mann inne halten. Er trinkt verstohlen einen Schluck Wasser, und wischt mit dem Taschentuch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich halte das Aufbäumen meiner Seele nicht mehr aus. Jetzt auf einen SS-Mann zulaufen und ihm ins Gesicht spucken – ein Schuss oder vielleicht schlagen sie mir den Schädel ein“, zitiert er aus seinem Buch. Zu einem Stück Fleisch erniedrigt habe er sich gefühlt, als die siebenstellige Häftlingsnummer in seine Haut eingeritzt war. „Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich das alles überleben würde, ich hätte ihn ausgelacht.“
 
Otto Schwerdt hat überlebt. Sein Wille war stärker als die täglichen Schikanen, als das Auspeitschen mit einer Geißel, an deren Ende Bleistücke befestigt waren. 25 Schläge zerfetzten Schwerdt den Hintern, weil eines Tages zwei Häftlingsnummern zu viel auf der Liste standen, die er zu führen hatte. Durch einen glücklichen Zufall überstand er ein anderes Mal die Schikanen eines SS-Mannes: Ein Blockältester, der eine warme Jacke hatte, lieh ihm im Winter sein Kleidungsoberteil. Und weil es den roten Winkel für politische Häftlinge statt des Judensterns trug, wurde Schwerdt nur geprügelt und nicht erschossen. Wie er den permanenten Hunger, den Geruch der verbrannten Leichen aus den Krematorien und die knochenharte Arbeit überlebt hat, weiß er selbst nicht recht.
 
Als Hilfsschreiber im Krankenrevier musste er vier Monate lang die täglichen Toten und ihre vermeintlichen Todesursachen in Listen eintragen. Mit einem speziellen Filzstift schrieb er außerdem die Häftlingsnummer auf die Brust der Toten. Ihren Anblick wie auch die Schmerzen und Ängste waren beklemmend. Mit seinem Buch „Als Gott und die Welt schliefen“, inzwischen in der 19. Auflage erschienen, schrieb er sich 1998 den größten Druck von der Seele. Dennoch: „Man verarbeitet es nie, man kann es nur verdrängen.“
 
Seine Peiniger sah er nie mehr. „Gott sei Dank“, wie er sagt. Wie er reagiert hätte, weiß er nicht. „Ich bin aber ein großer Gegner der Kollektivschuld.“ Unter den SS-Männern in Auschwitz sei auch einer gewesen, der ihm Heinrich Manns Buch „Der Untertan“ geschenkt habe. Die Verräter in den Reihen der Häftlinge nimmt er ebenfalls in Schutz. „In der Todesangst ist der Mensch unberechenbar.“ Viele fromme Juden hätten in der unbeschreiblichen Not der KZs den Glauben an Gott verloren. „Trotzdem haben wir gerufen: Lieber Gott, rette uns.“
 
Die Rettung kam wider Erwarten. Gerne erzählt Otto Schwerdt davon, „weil’s auch ein bisschen lustig ist.“ Nach mehreren Todesmärschen landete er mit seinem Vater in Theresienstadt. Als die Russen das KZ befreiten, litt Schwerdt an Typhus. Das hohe Fieber ließ ihn ohnmächtig werden. Er wachte nach drei Tagen auf und dachte wegen der weißen Bettwäsche zunächst, er sei im Himmel. Eine russische Majorin sagte ihm auf Jiddisch, dass der Krieg vorüber sei.
 
Schwerdt holte in Weiden das Abitur nach, ging nach zwei Semestern Chemiestudium in Regensburg 1948 nach Israel, wo er während des Unabhängigkeitskrieges kämpfte. Seit 1954 ist er wieder in Regensburg, wo er heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde und des Landesausschusses der Israelitischen Kultusgemeinden ist. „Ich bin Deutscher, genau wie Sie. Zufällig sind Sie halt Christen, und ich bin Jude. Es darf nicht sein, dass keine Juden hier in Deutschland leben.“
Otto Schwerdt und Mascha Schwerdt-Schneller: „Als Gott und die Welt schliefen“, 192002, 111 Seiten, 10,20 Euro, Lichtung Verlag, ISBN-Nr. 3929517272.
 
(0503/0143; Telefax voraus)